Transportwege

Alltag

Allmählich begann man sich in Hennstedt an die eintreffenden und wieder abfahrenden Züge mit ihren Auswirkungen auf das Dorfleben zu gewöhnen. Der Bahnhofsbetrieb wurde zum Alltag und durch sein hohes Verkehrsaufkommen zum wichtigsten am Nordring. Täglich fuhren nun drei aus Personen- und Güterwaggons bestehende Züge in jeweils beide Richtungen. An Markttagen mittwochs und samstags und an Sonn- und Feiertagen setzte man einen Extrazug ein. Viele Männer aus dem Dorf fuhren jetzt mit dem Frühzug zur Arbeit nach Heide. Sicher verbrachten sie, nachdem sie bei den ersten Fahrten noch interessiert aus dem Fenster geschaut hatten, die späteren Fahrten schlafend; denn ihr Arbeitstag war lang und anstrengend, so dass viele erst spät abends mit dem letzten Zug heimfahren konnten. Auch in den mit den Schülern besetzten Abteilen verhielt es sich morgens verhältnismäßig ruhig. Einige dösten, andere bereiteten sich konzentriert auf den bevorstehenden Unterricht vor. Ganz anders verhielt es sich auf der Rückfahrt der Schüler am Nachmittag. Entspannt, munter und übermütig sollten sie so manchen Streich ausgeheckt haben, wovon später noch die Rede sein wird.
Hauptsächlich an den Markttagen wurde nach Heide gefahren, wobei man dort auch noch anderweitige Einkäufe erledigte. Dies wirkte sich allerdings spürbar auf die Hennstedter Geschäftswelt aus, indem diese mit dem Beginn des Bahnbetriebes einen leichten Umsatzrückgang verzeichnen mussten. Um dem entgegenzuwirken, veranstalteten die Hennstedter Kaufleute im November eines jeden Jahres im Ort eine große Verkaufsmesse, um ihre Waren auszustellen, den Dorfbewohnern näher zu bringen und Kaufanreize zu schaffen.

Bahnhofsvorsteher und Lokführer zeigten sich trotz ihrer Dienstvorschriften recht flexibel und gingen oft auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der Reisenden ein. Wenn der Bahnhofsvorsteher bemerkte, dass am Morgen bei Abfahrt noch einer der mitfahrenden Schüler fehlte, ermahnte er ihn von Weitem mit einem Pfiff auf seiner Trillerpfeife zur Eile. Als der Buchdrucker Schultz einmal verhindert war und es nicht ganz schaffte, pünktlich zum abfahrenden Zug zu kommen, schickte er seine Tochter zum Bahnhofsvorsteher vor mit der Bitte, mit der Abfahrt noch auf ihren Vater zu warten. Und tatsächlich fuhr der Zug erst nach seinem Eintreffen 10 Minuten später ab. Auch sollen Personen per Anhalter mitgenommen worden sein, wenn sie auf der Wegstrecke in Kurven, in denen der Zug langsam fahren musste, dem Lokführer entsprechende Zeichen machten. Weil die Lok Tag für Tag, bei jeder Witterung, bei glühender Hitze und eisigem Frost, über Höhen und Tiefen ihren Weg ‚abspulte’, wurde sie im Volksmund liebevoll ’Spule’ genannt (so eine Version zu ihrem Namen). Ganz reibungslos schien sie jedoch nicht immer zu laufen, was ihr seitens der Schüler die Spitznamen ‚Martin Luther’ oder ‚Galileo’ nach deren beiden bekanntesten Aussprüchen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ oder „Und sie bewegt sich doch!“ einbrachte.