Nachdem die Wehrmacht 1939 mit dem Überfall auf Polen den Krieg begonnen hatte, wurden mehr als zwei Millionen Menschen aus den besetzten Gebieten nach Deutschland verschleppt, um sie als „Arbeitssklaven“ in der Landwirtschaft und Rüstungsindustrie einzusetzen. Davon profitierten auch viele Dithmarscher Arbeitgeber, insbesondere Landwirte, da ihnen deutsche Arbeitskräfte durch deren Einberufung zur Wehrmacht fehlten. Laut einem Schreiben des Amtsvorstehers als Ortspolizeibehörde in Hennstedt vom 10.8.1940 gab es zu diesem Zeitpunkt schon fünf Kriegsgefangenenlager in der Region: Hennstedt/Linden, Süderheistedt, Fedderingen, Rehm und Schlichting. Polnische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter tauchten als erste Gruppe von Gefangenen in der Region auf. Das Wachkommando Hennstedt benannte bereits am 4.1.1940 34 Gefangene aus Polen, die in 27 Betrieben in Hennstedt und Fedderingen arbeiten mussten. Zum gleichen Zeitpunkt führte das Wachkommando Linden 18 Betriebe auf (Linden und Barkenholm), in denen polnische Kriegsgefangene beschäftigt waren. Die Unterbringung erfolgte noch nicht in Lagern sondern war privat. 28 Später kamen Gefangene oder Zwangsarbeiter aus anderen Ländern dazu. Ca. 45 Franzosen, Belgier und Serben wurden in einem neuen Gefangenenlager, das in einer ehemaligen Werkstatt angelegt wurde, untergebracht. Nach einem Zeitzeugenbericht bestand es aus einem Schlafraum mit Stockbetten, einem Wasch- und einem Aufenthaltsraum. Ein Wachmann kümmerte sich um die Belange der Gefangenen, z. B. sorgte er dafür, dass die Gefangenen Kenntnis erhielten von sie betreffenden polizeilichen Anordnungen. Abends wurden sie eingeschlossen. Zwei Jahre später wurden diese Gefangenen in ein anderes Lager umquartiert.
Bei den Gesetzen, die das Leben der Ausländer am Arbeitsort regeln sollten, zeichneten sich im Verlauf der Kriegszeit Unterschiede in der Behandlung der Gefangenen je nach Nationalität ab: Polen, Ukrainer und Russen waren in der Rangfolge zuunterst und besonders streng zu behandeln: Landrat Beck informierte die Ortspolizeibehörden über „die Behandlung der Zivilpolen“. 29
Er forderte von den Arbeitgebern, dafür zu sorgen, dass „strengstes Unterordnungsverhältnis“ der Polen bestehen sollte, und er warnte vor „Verbrüderung“: „Er (der Pole) soll satt zu essen haben und arbeiten. Weiter braucht er nichts“. Auch das „gemeinsame Einnehmen der Mahlzeiten mit deutschen Volksgenossen darf nicht weiter geduldet werden“. Und es war unbedingt darauf zu achten, dass die Polen das „P“ trugen. Die Unterbringung eines Polen im Zimmer eines Deutschen wurde nachdrücklich untersagt. In einem „Merkblatt für Arbeiter ukrainischen und weißruthenischen Volkstums“ 30 wurde besonders das Verbot des Geschlechtsverkehrs mit deutschen Frauen betont. Ein Schreiben des Landrats vom 4.11.42 führte aus: „Ostarbeitern, Arbeitskräften aus den Baltenländern, Protektoratsangehörigen und sonstigen fremdvölkischen Arbeitskräften aus den Ostgebieten andererseits“ dient zur Vermeidung „der Gefährdung des rassischen Bestandes des deutschen Volkes“.31 Bei Verstößen sollten sehr harte Strafen erfolgen. Schon 1935 wurde ein „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ erlassen, um „Rassenschande“ zu verhindern. Aus Zeitzeugenberichten geht hervor, dass sich die Hennstedter Arbeitgeber nicht immer an diese Polizeiverordnung gehalten haben. Z. B gemeinsames Essen in der warmen Küche anstatt in der kalten Waschküche war besonders im Winter selbstverständlich. Da gelegentlich überprüft wurde, ob die Anordnungen befolgt wurden, musste man allerdings sehr vorsichtig sein und auch damit rechnen, von Nachbarn und anderen angezeigt zu werden. Auch gab es durchaus in Einzelfällen freundschaftliche Beziehungen zwischen den Ausländern – besonders denen aus westeuropäischen Ländern - und den Deutschen. Es wird von Zeitzeugen berichtet, dass eine junge Frau aufgrund eines Verhältnisses zu einem belgischen Zwangsarbeiter schwanger wurde, und nun musste ganz schnell ein deutscher „Alibimann“ her, der sie zwecks Tarnung heiratete. Nach dem Krieg kam es zu einem glücklichen Ende, weil dann der belgische ehemalige Kriegsgefangene die Deutsche heiraten konnte. In der Zeit ihrer Gefangenschaft sind mehrere Personen, davon einige namentlich bekannt, umgekommen und in Hennstedt bestattet worden. Vier dieser Gefangenen sind noch am 24. April 1945 „durch Feindbeschuss gefallen“. Ein polnischer Gefangener beging 1944 im Alter von 26 Jahren Selbstmord. Auch mehrere polnische Kleinkinder sind in der Zeit der Gefangenschaft ihrer Mütter gestorben – an Krankheiten wie Lungenentzündung und Rachitis.32
Den Zeitzeugen ist die Ankunft sowjetischer Kriegsgefangener besonders in Erinnerung: Sie machten einen Mitleid erregenden Eindruck, wirkten ausgehungert und schwach und waren nur dürftig gekleidet, vor allem fiel bei vielen das Fehlen der Schuhe auf, die Füße waren nur mit Lumpen umwickelt. Anfänglich durften sie von ihren Arbeitgebern als Nahrung nur Pellkartoffeln bekommen, anderes Essen hätten sie in ihrem Zustand nicht vertragen. Es liegen diverse Listen der Gefangenen im Gemeindearchiv vor, die sich teilweise namentlich überschneiden und meist ohne Jahresangabe sind. Eine dieser Listen umfasst 65 Namen von Gefangenen aus Frankreich, Belgien und Jugoslawien, der Arbeitsort war fast ausschließlich Hennstedt Einige Monate nach Kriegsende im Herbst 1945 wurde vom Kirchspielsvorsteher auf Anordnung der Militärregierung eine Liste der „Ausländer im Amtsbezirk“ Hennstedt erstellt (wobei es sich wohl nicht nur um Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter handelte). Sie umfasst 54 Personen unterschiedlicher Nationalität. Die Genannten stammen aus Rumänien, Jugoslawien, Serbien, Litauen, Lettland, Polen, Ukraine, Russland, Tschechoslowakei, Frankreich und Belgien.
Fast zum gleichen Zeitpunkt entstand eine weitere Namensliste nichtdeutscher Staatsangehöriger. Es wurden vermutlich Gefangene und Zwangsarbeiter erfasst sowie andere Ausländer, die sich aus unterschiedlichen Gründen in der Region Hennstedt aufhielten. Die Liste beginnt am 12.9.45 und umfasst 204 Namen. Es sollte damit die Frage der Rückführung in die Heimat geklärt werden. Mehr als die Hälfte der Personen wünschte keine Rückführung, Dabei handelte es sich überwiegend um Litauer, Polen und Deutsche aus Danzig, da deren Gebiete von den Sowjets besetzt waren. Diese Menschen wurden als „Displaced Persons“ bezeichnet; 1950 lebten immer noch 9.000 nun als „Heimatlose Ausländer“ bezeichnete Personen in Lagern in Schleswig-Holstein. Viele dieser Menschen sind bis heute Teil unserer Gesellschaft. 33 Für Bürger der Sowjetunion stellte sich diese Alternative nicht; es gab ein Abkommen mit Stalin (Konferenz von Jalta), dass alle Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter ausnahmslos zurückzuführen seien. Die Alliierten hielten sich an diesen Vertrag und schickten die Sowjetbürger zurück in die „Heimat“. Dort wurden viele von ihnen der Desertion oder der Kollaboration angeklagt und kamen für mehrere Jahre wiederum in Arbeitslager nach Sibirien.
Zur Bezahlung der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter: Sie erhielten Lagergeld - und zwar 0,54 RM pro Tag für eine Arbeitszeit je nach Bedarf oft mehr als 12 Stunden 34 - mit dem sie nur in bestimmten Läden einkaufen konnten. In Hennstedt wurde eine „vorläufige Bescheinigung über die Berechtigung zur Annahme von Lagergeld an den Kolonialwarenhändler Thiessen (für 32 Kriegsgefangene)“ ausgestellt. 35
Nach der Kapitulation gestaltete sich die Situation der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter sehr unübersichtlich. Nach Zeitzeugenberichten wurde mancherorts sofort die Arbeit verweigert, von anderen hörte man, dass die Gefangenen
sich wegen zu schlechter Behandlung an ihren Arbeitgebern rächen wollten. Es ist uns nicht bekannt, inwieweit in Hennstedt Derartiges vorgekommen ist. Es wurde im Gegenteil umgehend dafür gesorgt, dass die Verpflegung der Kriegsgefangenen und ausländischen Arbeiter „ unbedingt sicherzustellen sei“. Der Amtsvorsteher als Ortspolizeibehörde gab den Befehl, dass sie „weiterhin von dem bisherigen Arbeitgeber verpflegt werden“.36