Hennstedter Zeitzeugen berichten

Krieg verändert den Alltag

Der Kriegsausbruch kam für viele nicht überraschend. Viele Jungen und Männer, die freiwillig in den Krieg gingen oder von der Wehrmacht eingezogen wurden, waren davon überzeugt, einer ‚gerechten Sache‘ zu dienen; da war es ganz selbstverständlich, dass man ‚dabei‘ war. Während des Krieges tauchten dann Zweifel auf, die man aber öffentlich nicht äußerte, da man wusste, dass dieses strafbar war.
Das erste sichtbare Zeichen des Kriegsgeschehens im Dorf war das Eintreffen der polnischen und russischen Zwangsarbeiter( s. Kap. 2 :  „Drittes Reich“ im Dorf).
Ab 1943 sah man die ersten britischen Bomberflotten, die zur Bombardierung in Richtung Kiel oder andere Orte auch über Hennstedt hinweg flogen. Bei entsprechender Windrichtung hörte man sie bereits, bevor die Sirenen losgingen und Alarm auslösten: ‚Da war ein ganz bestimmter singender Ton‘, erinnert sich eine Zeitzeugin. 
Auch wenn unser Dorf sicher nicht das Ziel der Bomber war: wenn die Flugabwehr, ausgerüstet mit der Flugabwehrkanone, (Flak) , die u.a. bei Pferdekrug und Hochfeld stationiert war, und die deutschen Abfangjäger die engl. Bomber angriffen, wurde es auch für Hennstedts Bewohner gefährlich. Die feindlichen Flieger reagierten mit dem Abwurf von sogenannten ‚Tannenbäumen‘ zum Erhellen des Luftraumes und Luftminen. Einmal hörten die Hennstedter einen Bombeneinschlag, der ein Notabwurf eines angegriffenen Fliegers war und in Kleve detonierte (wie sie später erfuhren). ‚Dat Rumssen‘ war noch deutlich in Hennstedt zu spüren. Ein anderes Mal detonierte eine Bombe direkt auf einer Koppel in der Nähe des heutigen Supermarktes. Beide Bomben richteten große Sachschäden an. Während in Kleve ein ganzes Haus dabei zerstört wurde, zerbarsten in Hennstedt im großen Umfeld der Explosion durch den hohen Luftdruck zahlreiche Fensterscheiben. Einige Hitlerjungen mussten schon im Vorwege Wasser in Eimern in den Kirchturm schleppen, um bei Bedarf schnell löschen zu können, und während der Luftschlacht mit Taschenlampen ins freie Feld laufen, um dort mit den Lichtstrahlen ihrer Taschenlampen die Flieger vom verdunkelten Dorf abzulenken. 
Eine Zeitzeugin, die im alten Postgebäude wohnte, erinnert sich, dass sie bei Bombenalarm nie in den Keller gegangen waren, weil sie Angst hatten, dort begraben zu werden. Mit dem stets mit wichtigen Sachen gepackten Rucksack sowie ‚Tallilich und Rietsteken‘ (Talglichter und Streichhölzer) sind sie warm angezogen auf die Postkoppel gerannt. Ihre gestrickten Handschuhe, die sie während der Luftschlacht getragen hatte, waren danach vor Angst an den Fingerspitzen ganz durchgebissen. 
Das durch die Bombardierung entstandene Feuer über der Erdölraffinerie in Hemmingstedt (auch ‚Hölle‘ genannt) soll man von Hochfeld aus sehr gut gesehen haben. 
Nach so einer Nacht mussten die BDM-Mädchen so früh wie möglich die von den Flugzeugen abgeworfenen sogenannten Brandplätzchen einsammeln, die sich sonst bei Sonnenschein entzündet und bei entsprechender Lage Brände ausgelöst hätten. Ebenso hatten sie die Aufgabe, metallene Silberstreifen, die die feindlichen Flugzeuge zur Störung des Radars gestreut hatten, einzusammeln und abzuliefern. 
Eine Zeitzeugin erzählte, dass sie als Kinder nach so einer Nacht mit Wolldecken, Verdunklung und nachgemachtem Sirenengeheul einmal ‚Fliegeralarm‘ spielten, wofür sie von den Erwachsenen ‚ziemlich ausgeschimpft und als böse‘ bezeichnet wurden. Sie waren sich jedoch keiner Schuld bewusst, hatten doch nur nachgespielt (vielleicht auch verarbeitet?), was sie vorher selber erlebt hatten!
Noch gefährlicher war tagsüber das Arbeiten auf dem freien Feld, weil man dort ohne Vorwarnung von den Tieffliegern angegriffen und beschossen werden konnte. Man versuchte dann so schnell wie möglich hinter dem nächsten Wall in Deckung zu gehen. Oft wurden die Tiere auf dem Feld in Panik versetzt, wenn die Tiefflieger absichtlich ganz tief über sie hinwegflogen. 
Es wird berichtet, dass bei einem solchen Angriff einmal ein auf dem Feld mitarbeitender Zwangsarbeiteraus der Ukraine ganz demonstrativ stehenblieb  mit der Bemerkung: „Ich – Freund!“  Wenn es bei diesem Angriff auch Tote gab, für ihn ging die Sache gut aus. 
Gegen Ende des Krieges wurden die 16jährigen Jungen im Schnellverfahren zu Flakhelfern ausgebildet und an der Heimatfront eingesetzt, während die jungen Mädchen (die Arbeitsmaiden) in den Lazaretts (z.B. bei Neuhof oder in der Schule) die Verwundeten pflegten. 
Man konnte Pate eines Verwundeten werden, indem man sich um ihn besonders kümmerte und ihm warmes Essen und Bettzeug brachte. Auf den Feldern wurde fleißig Kamille gesammelt, die im Lazarett zur Pflege der Verwundeten gebraucht wurde. 
Bereits zum Kriegsbeginn wurden mehrere Lehrer eingezogen und durch Hilfslehrer (zum Teil auch Hausfrauen) ersetzt. Der Unterricht konnte nicht zuverlässig erfolgen oder fiel aus, auch weil später so manches Mal das Heizmaterial fehlte. 
Die Schulräume wurden mit der Zeit immer wieder zweckentfremdet: Sie dienten zwischenzeitlich als Lazarett oder Flüchtlingsunterkünfte.
Mit dem Neubeginn des Schulunterrichts nach dem Ende des Krieges im Herbst 1945 hatte sich die Schülerzahl durch die Kinder der Evakuierten und Flüchtlinge mehr als verdoppelt. Wegen Lehrermangel und begrenzter Räumlichkeiten musste der Unterricht für einige Klassen wechselweise auch am Nachmittag stattfinden. 
Erschwerend kam des Weiteren hinzu, dass kaum noch Schulmöbel und Unterrichtsmaterial vorhanden war.
Die Lese- und Heimat- und Erdkundebücher mussten ohnehin wegen der darin enthaltenen Nazi-Ideologie seitens der Militärregierung vernichtet werden.
Als Schreibpapier diente alles, was nur irgendwie dazu geeignet war: u.a. altes Packpapier, aus Kontenbüchern herausgerissene leere Seiten und sogar die Rückseiten der Feldpostbriefe.
Den Unterrichtsmangel hatten viele damaligen Schüler später nie wieder ganz aufholen können. Einige fühlen sich dadurch noch heute um diese Schulzeit betrogen – wie überhaupt die Jugend durch den Krieg um ihre Kindheit betrogen wurde.
 

Vorwort eines Schulbuches

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