Die Ottens-Straße, sie verläuft zwischen Mühlenstraße und Marktplatz, erinnert an eine einst einflussreiche und betuchte Familie, deren Name allerdings für die meisten heutigen Einwohner des Ortes kein Begriff mehr ist. Diese Tatsache ist umso erstaunlicher, als dass es sich bei den Ottens um eine Familie gehandelt hat, deren Einfluss und Wirken nicht nur das Leben und Geschehen in Hennstedt, sondern im gesamten Kirchspiel mitgeprägt hat. Erstmalig erscheint der Name Ottens im Kirchspiel Hennstedt um1500, als eine junge Frau aus Pahlen nach Kleve geheiratet hatte und einen Sohn, Johann Ottens, mit in die Ehe brachte. Junker Schinkel von der Thielenburg hatte in der Familie der Frau ein Blutbad angerichtet. Ihr Mann wurde getötet, den Sohn konnte sie retten. Im Rahmen der Ahndung dieser Tat durch die Obrigkeit in Heide wurde die Burg zerstört und das dazu gehörige Land ausgelost. Hennstedt zog dabei das beste Los in Form des Burgplatzes sowie beträchtlicher Ländereien und schenkte beides der Secundus-Kirche, wo es bis heute im Besitz ist.
Der Name Ottens tauchte erst zur Wende vom 18./19.Jahrhundert wieder auf. Von da an jedoch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war der Name nicht nur in Hennstedt ein Begriff. Die Familie bewohnte das große, imposante Eckhaus in der Ortsmitte, das spätere Kaufhaus Tanck, heute Kirchenstraße 1, leer stehend. Allerdings war ihr Grund und Boden weitaus größer als das Wohngrundstück. Zeitzeugen überlieferten, dass beide Seiten der heutigen Ottens-Straße in ihrem Besitz waren. Umfangreiche landwirtschaftliche Liegenschaften, Geestkoppeln und Grünflächen, hauptsächlich im Horster Koog, rundeten den Familienbesitz ab.
Am 20. Juli 1782 war der Deputierte Johann Hinrich Ottens nach Empfehlung des Landvogtes in Heide vom dänischen König Christian VII zum Kirchspielsvogt in Hennstedt ernannt worden. Er muss schon höher gebildet gewesen sein, zumal er die für die Bewerbung notwendige „rechtskundliche“ Vorbildung nachweisen konnte. Bereits 1788 gab er das Amt an seinen Sohn Carsten ab. Dessen Tochter Wiebke heiratete den Hauptpastor With. So etwas zählte. Die Familie Ottens war nun in die erste Reihe der Hennstedter Familien aufgerückt, woran ihnen scheinbar viel gelegen war.
Carsten Ottens war Kaufmann und betrieb einen Textilhandel in seinem Haus. Außerdem lag der Ankauf von Land im Blut der Ottens‘. Nicht nur in Hennstedt sondern in der gesamten Umgebung. Die Geldmittel dafür kamen einerseits aus dem Textilhandel, andererseits sagte man ihm nach, dass er, bedingt durch die von Napoleon gegen England verhängte Kontinentalsperre, über Helgoland neben englischen und schottischen Stoffen auch allerhand andere Kolonialwaren nach Dithmarschen schmuggelte. Hier verkaufte er sie zu vorteilhaften Preisen. Zeitzeugen sollen berichtet haben, dass die Ottens‘ Steuerschuldnern geholfen haben und sich dafür mit Grund und Boden abfinden ließen. Ob sie damit allerdings wahre Freunde gefunden haben, bleibt unerwähnt. 1813 übergab Carsten Ottens das Amt des Kirchspielvogtes an seinen Sohn Johann Hinrich. Er ging aber nicht vollkommen zur Ruhe, sondern verwaltete die Kirchspielkasse; er wurde im heutigen Sinne Kämmerer. Es hatte den Anschein, als wollten die Ottens‘ durch „Ämterpatronage“ das Amt des Kirchspielvogtes in Erbpacht nehmen. Johann Hinrich zeichnete sich durch Umsicht, Sachlichkeit und Unparteiigkeit aus. Er stellte sogar sein Amt über Familienrücksicht, als er 1828 Claus-Hinrich von der Heyde’s Pläne, eine Windmühle am östlichen Rand Hennstedts zu erbauen, mit der Begründung unterband „zwey Mühlen in und bei Hennstedtmit gleicher Kundschaft können ihre Besitzer nicht ernähren“. Ottens und von der Heyde waren durch Anheiraten verwandt geworden. Johann Hinrich Ottens hatte mit seiner Frau Caroline geb. Eckmann neun Kinder, sechs Töchter und drei Söhne. Drei von ihnen heirateten in die Familie von der Heyde ein nach dem Motto „Geld mutt to Geld komen“. Ein Sohn, Johann Heinrich, hatte sehr frühgeheiratet. Er bekam „Im Sack“, einen wohl arrondierten Bauernhof. Ein weiteres „wichtiges“ Ziel war somit erreicht: Ein Sohn der Kaufmannsfamilie war Hofbesitzer. Ein anderer Sohn, Otto Hermann, bekam ebenfalls ein Anwesen, an der südwestlichen Ausfahrt nach Heide und Linden. Es ist jedoch nicht sicher, dass er dieses je selbst bewirtschaftet hat. Vieles deutet darauf hin, dass er weiterhin dem Kaufmännischen nachging und das väterliche Stammhaus leitete. Seine ledig gebliebene Schwester, Dorothea Juliane Theres, stand hinter dem Ladentisch.
1837 starb die Lebensgefährtin von Johann Hinrich Ottens. Bereits bei dieser Gelegenheit mag ihm der Gedanke gekommen sein, dass der Friedhof um die Kirche herum zu eng war. Auf jeden Fall hat er 1844 aus seinem Privatbesitz eine bedeutende Stiftung getätigt. Er übereignete der Kirche Grund und Boden zur Anlage des heutigen Friedhofs. Dafür erhielt er ein kostenfreies Erbbegräbnis in der Mitte des Friedhofes in der Nähe des jetzigen Krieger-Denkmals von 1870/71.
Der Einfluss von Johann Hinrich Ottens und das Vertrauen in ihm müssen gewaltig gewesen sein. In der Zeit um 1846 bereiste Dänenkönig Christian VIII das Land, um sich über die Stimmung der Dithmarscher ein Bild machen zu können. In Fedderingen riet man ihm, den Hennstedter Kirchspielvogt Ottens aufzusuchen, dessen Meinung hoch angesehen war. Tatsächlich ist der König hier vorstellig geworden. Über die Ergebnisse der Unterredung gab es nur Vermutungen. Auf jeden Fall soll der Besuch sehr lange angedauert haben bei einem ausgiebigen Abendessen und ebenso viel Wein. Anschließend hat der König die Übernachtung im schmucken, geräumigen Haus der Ottens‘ seiner eher kärglichen Unterkunft in Fedderingen vorgezogen.
Wahrlich heldenhaft trat Ferdinand Emil Ottens am 8. April 1848 auf, als nach der zwangsweisen Einverleibung Schleswigs in Dänemark ganz Deutschland zum Feldzug aufrüstete. So auch junge Turner und Studenten aus Kiel, zu denen er gehörte. In einem Bericht von Detlef von Liliencron steht geschrieben, dass der von kolossaler Körpergröße geprägte Ottens sich dänischen Dragonern in Flensburg entgegenstellte und deren Anführer und den Trompeter mit dem Bajonett von den Pferden holte. Liliencron schließt seine Aufzeichnung: „Pferde, Reiter und Ottens bildeten ein Knäuel, aus dem er jedoch recht unversehrt herauskam. Die Studenten hatten dadurch Zeit bekommen und konnten flüchten.“ In Hennstedt soll dieses „Heldentum“ für viel Gesprächsstoff gesorgt haben, „Dat süht em liek, he weer all jümmerso’n Droppgänger“. Das Ansehen der Ottens‘ hat es jedenfalls noch mehr gehoben. Am 6. Juni 1849 fiel Lieutenant Ferdinand Ottens vor den Toren der dänischen Stadt Fredericia. Der älteste Sohn, Johann Heinrich Ottens, kehrte 1851 aus den Kriegen nach Hennstedt zurück. Er brachte den ehemaligen Feldarzt Dr.Schrader mit, richtete ihm eine Praxis ein und ließ ihn neben dem ansässigen Arzt Dr. Knölck, wegen seiner Methoden auch Dr. Habergrütt genannt, praktizieren. Dieser rächte sich dafür in besonderer Weise. Er kaufte einem Bruder des Mühlenbesitzers von der Heyde - diese Familie war durch Heirat bekanntlich mit Ottens verwandt - ein Landstück ab und ließ darauf die Mühle Justicia auf dem heutigen Mühlenberg errichten. „Wenn in Hennstedt twee Dokters leben köönt, denn köönt hier ok twee Möllers existieren, dat is Gerechtigkeit!“ So kam Hennstedt 1851 zu seiner zweiten Mühle, der so genannten Doktormühle. 1852 wollten Dänenfreunde Johann Hinrich Ottens von seiner Stellung als Kirchspielvogt absetzen, nachdem dem deutsch-gesinnten Landvogt Boysen bereits dieses Schicksal ereilt hatte. Nur weil der Dänenkönig Christian VIII einmal im Haus der Ottens verweilt hatte und der 70jährige Kirchspielvogt ohnehin nicht mehr lange leben werde, ließen sie ihn im Amt. Von vielen Sorgen gebeugt, starb er mit 74 Jahren am 1. September 1856 nach 43 Amtsjahren und wurde auf dem Erbbegräbnis der Familie unter großer Anteilnahme beigesetzt. Die Ära Ottens in Hennstedt ging danach zu Ende, und die Familie fing an zu „zerbröckeln“. Ob aus Verzweiflung oder wegen seiner schweren Kriegsverletzung ist nicht bekannt, auf jeden Fall verkaufte Johann Heinrich Ottens seinen Hof „Im Sack“ an den neuen Kirchspielsvogt Hedde.1875 wiederum verkaufte dieser das Anwesen für 70.000 Goldmark an Peter Peters, der aus dem Goldland Kalifornien heimgekehrt war und dort zu Reichtum gekommen war. Ottens‘ Spuren verloren sich in Heide. Bruder Otto Hermann trug den Titel „Vollmacht“. Ob nun als Vertreter für die Interessen von Gemeinde und Kirchspiel Hennstedt oder als Bevollmächtigter auf der Landesversammlung in Itzehoe, ist nicht bekannt. 1874 jedenfalls veräußerte er seinen Hennstedter Grundbesitz und legte ihn in Heide wieder an, wo er fortan als Rentier und Hausbesitzer geführt wurde.
Allerdings wurde er im Alter noch zum Politiker und vertrat nachdrücklich die Rechte und Belange der Schleswig-Holsteiner und Dithmarscher. Laut Grundbucheintragungen in Hennstedt ist er 1910 verstorben, und restlicher Grundbesitz ist seinem Sohn Ferdinand übertragen worden. Dieser hatte es außerhalb seiner Heimat in Halle an der Saale bei einer Papierfabrik zu etwas gebracht. Seine Frau stammte aus der wohlhabenden Flensburger Reedersfamilie Brodersen. Er hing trotz des großen Aufstiegs Zeit seines Lebens fest an Hennstedt. Sesshaft wurde er in Glücksburg. Er kaufte und bewohnte dort das herzoglich Glücksburger Prinzenpalais und blieb erfolgreich in der Papierbranche tätig, wurde Mitbegründer und Aktionär vom „Heider Anzeiger“, Mitbegründer des „Deutschen Verlags“ und Aktionär des „Flensburger Tageblattes“. In Glücksburg war er stellvertretender Bürgermeister und verstarb hier 1926 mit 62 Jahren. Sein Sohn Otto Hermann, 1898 geboren, war 1948 noch einmal in Hennstedt und auch der Letzte der Ottens-Familie, der in Hennstedt verweilte. Sein Sohn Uwe Ferdinand, Jahrgang 1931, bewohnt die Villa in Glücksburg. In Hennstedt erinnert neben der Ottensstraße und dem ehemaligen Wohnhaus nur noch das auffällige Familiengrab an die Familie.
Ferdinand Ottens (1864-1926)