Hennstedter Zeitzeugen berichten

Die Gemeinde Hennstedt aus der Sicht eines Flüchtlingskindes

Via E-Mail erreichte uns am 8. Juni 2015 folgender Bericht für die Chronik von Klaus Ferlow, der 1945 als Flüchtling nach Hennstedt kam, 1955 nach Duisburg übersiedelte und, zusammen mit seiner Ehefrau Rosemarie geb. Hausmann aus Hennstedt, 1975 nach British Columbia in den Westen von Kanada auswanderte.


Die Gemeinde Hennstedt, Dithmarschen aus der Sicht eines Flüchtlingskindes
von Klaus Ferlow, Mission (Vancouver), British Kolumbia, Kanada


Ich bin 1938 als drittes Kind  in Tilsit Ostpreußen geboren und im Herbst 1944 mussten meine Mutter, mein Bruder Hans-Günter (hat in Heide gelebt, inzwischen verstorben)  und meine Schwester Elfie vor den russischen Armee fliehen und sind im Frühjahr 1945 nach Hennstedt gekommen und wurden bei Schuster Rusch untergebracht. Er liebte Kinder und ich habe oft auf dem Sitz neben ihm in seiner Werkstatt gesessen und ihm bei der Arbeit zugeschaut. Er war sozusagen ein “Ersatzopa” für mich da ich meine Oma und meinen Opa nach der Flucht nie wiedergesehen habe. In seinem großen Garten habe ich oft “unerlaubt” Birnen, Äpfel und Kirschen geerntet, was seine Haushälterin Elise Söth nicht gerne sah, aber Schuster Rusch saget nie etwas und gab ihr oft Anweisungen, ...”Nun gib dem Jung mal etwas zu essen, erst ist nämlich hungrig. Wir hatten für fünf Person ein kleines Zimmer, indem wir wohnten, aßen, kochten und schliefen was sehr beengt war. Durften uns allerdings später auch ein eignes Schwein halten, da ein Stall dem Wohnhaus angegliedert war. Am Haus waren Haselnussbüsche, die mir sehr gelegen kamen.
Es war eine besonders schwere Zeit für meine Mutter, mein Vater war zu der Zeit in einem Gefangenlager in Belgien,  und uns Kinder. Vor allen Dingen war das größte Problem keine vernünftige Ernährung, Obst und Gemüse und Milch gab es genug jedoch so gut kein Fleisch. Ich erinnere mich, dass wir oft nur Brot vom Bäcker Axen gekrümelt in bläuliche Magermilch hatten und wenn man abends ins Bett  ging knurrte einem der Magen. Als Kind war ich bis 1951 unterernährt, hatte ständig Magenkrämpfe, Blähungen, dicke Eiterpickel und Karbunkel, oft Erkältungen. Auf der Flucht war meine Blutzirkulation bei beiden Beinen bis zum Knie abgestorben und die Ärzte hatten mich bereits aufgegeben. Meine Mutter rettete mir das Leben, indem sie mit einer harten Bürste die Fußsohlen ständig massierte bis die Blutzirkulation wieder kam. Außerdem hatte ich eine doppelte Beschattung der Lunge und konnte kaum Essen halten. Bis zum 15ten Lebensjahr war ich einer der Kleinsten in meiner Volksschulklasse! Erst nach der Konfirmation fing ich wirklich an sie wachsen.

Woran ich mich als Kind besondere erinnere:
Die dörfliche Atmosphäre, die vielen Feste: Vogelschießen, Erntedankfest, Frühlingsfest, Turnerball, Goldene Konfirmationsfeste, Maskenball, Feuerwehrball, Maitanz in Glüsing, Silvesterball, Sportfeste, war aktiver Fußballer beim SSV Hennstedt in der  Jugendmannschaft und wir fuhren zu Spielen nach Tellingstedt, Wöhrden, Heide, Lunden, Hademarschen u. a. und waren sehr erfolgreich, in der Schule hatten wir regelmäßig Frühsport und anschließend spielten wir Faustball, Völkerball, Schlagball, Handball, Radball auf dem Schulhof in unserer Freizeit und meistens Fußball. Da es ja keine Fussbälle gab, machte meine Mutter aus Flicken einen Ball, leider hielt der nicht sehr lange und dann flogen einem die Flicker sozusagen um die Ohren.  Leichtathletik sowie Turnen bei Tetens Gasthof, Ringreiten, im Winter auf der Kule bei Bauer Peters Eishockey. Krögers Gehölz (spielten Räuber und Gendarm), Obstgarten Westphal “organisieren”  Äpfel, Birnen, Weintrauben, spielten in Kummerfeld, Verschönerung, sammelten Schrott und verkauften ihn bei Kluschat, Laterne laufen,, Tanz bei Tetens Gasthof und Kaisersaal, Kinderfilme (Piraten-, Abenteuer und Indianer Filme) im Kaisersaal, auf dem Markplatz Karussell, Zirkus Barum, einmal in der Woche kauften wir bei Biel Rotbarsch, Heringe (meine Mutter machte dann immer Schmandheringe und geräucherte Bücklinge und es hieß: “Eis am Stiel bei Biel kost nicht viel!” Meine Mutter schickte mich immer bei Bäcker Axen Schwarzbrot holen, er war nur zwei Häuser entfernt und auf dem Weg nach Hause knabberte ich immer die großen Kanten vom Brot ab. In Klaus Reimer's Garten “ernteten” wir Kinder Erdbeeren, Äpfel und Birnen, Pflaumen und Kirschen. Im Sommer gab es hin und wieder starke Regenfälle und Gewitter, dann ließen wir Papierschiffen auf der Straße schwimmen und rannten hinterher nur in der Badehose. Kann mich noch an den Großbrand erinnern nach einem gewaltigen Gewitter und Blitzeinschlag beim Bauer von Leesen, das ein Reetdach hatte der gegenüber der Spar- und Darlehnskasse war. Im Winter gab es verschiedene Male sehr harte Winter und in einem Jahr, es war wohl 1947 oder 1948 war das ganze Dorf total eingeschneit und jeder wurde zum Schneeschaufeln abkommandiert einschließlich alle Arbeitslosen, und davon gab es sehr viele. Bauer Hollings fuhr mit seinem Pferdewagen und seinen Zwillingsmädchen herum und belieferte Kunden. Schutzmann Hussman schaute nach dem Rechten und wurde später von Schutzmann Rehbehn abgelöst.
Als wir bei Damman wohnten hatten wir keinen Backofen und ich brachte den  beliebten Streuselkuchen zu Bäcker Clausen und beim Abholen knapperte ich immer die größten Streusel vom Kuchen was meiner Mutter gar nicht gefiel. Milch wurde mit einer Milchkanne vom Bauer geholt und da ich ein großer Milchtrinker war, trank ich einen Teil ab und füllte dann nach mit der Wasser Pumpe, um nicht aufzufallen. Bei Lebensmittel Kaufmann Steinberg sollte ich “Mostrich” holen und da wurde mir gesagt, Mostrich haben wir nicht, nur Senf, den ich dann nicht kaufte. Herr Steinberg war immer sehr lieb zu Kindern, hatte einen riesengroßen Glasbehälter in dem Bonbons waren und gab oft Bonbons ohne Bezahlung an Kinder. Bei Thams & Garfs verliebte ich mich in Kokosflocken weis und rosa. Auch waren „Negerküsse“ sehr gefragt.
Bei Bauer Mewes im Kuhstall im Winter ausgeholfen, dafür gab es gutes Essen, besonders die Erbsensuppe von Tante Mewes mit knackigen Speckwürfeln schmeckte besonders gut, manchmal gab es auch danach einen Bratapfel aus der Backröhre vom Kachelofen. Im Sommer bei den Bauern auf dem Feld gearbeitet, besonders gerne bei Bauer Martens, da Frau Martens immer tolle Brotschnitten mit hausgemachter Leberwurst und Schweinefleisch sowie Buttermilch zum Vesper brachte. Auch bei Bauer Westensee gab es gutes Essen, abends alle aus einer riesengroßen Eisen- Bratpfanne und anschließend “rode Grüt!” Habe mein erstes Geld damit verdient, indem ich im Hollingsteder Gehölz Mai
glöckchen gepflückt habe und bin von Haus zu Haus gegangen und habe die Sträuße für 10 Pfennig verkauft. Es gab damals die blauen10 Pfenning Marken und oft fand ich hinter der Hecke von Schuster Rusch's Garten solche Scheine, die der Wind vom Marktplatz rüber geweht hatte.  Auch haben wir Flaschen nach Festen gesammelt und da gab es 10 Pfennig für eine weiße und 5 Pfennig für eine dunkle braune oder grüne Flasche.  Bei Hollers Gaststätte zum ersten Mal Fernsehen Schauen in 1951 mit der Sendung von Peter Frankenfeld “Eins zu Null für Sie.” Dort konnte man mit dem Geldautomaten spielen und es gab auch gutes Eis. Nach Horst in der Eider baden gehen, wäre dort fast ertrunken mit 9 Jahren, glücklicherweise rettete mich Günter Dohrwardt, der den Kursus für Lebensretter gemacht hatte. Ich erinnere mich, als es Schulspeise gab, u.a. Grießsuppe mit Rosinen, und während die Soldaten in Hennstedt waren, gab es Keks und Schokolade. Bei Schmiedemeister Rudi Stollberg habe ich oft reingeschaut und ihn beim Pferdebeschlagen zugeschaut. Bei Ladewig Kiosk konnte  man am Automaten Süßigkeiten ziehen.  
Es gab sogar ein Leierkasten Mann, der ab und zu uns alte bewährte Lieder vorspielte. Bewunderten im Frühjahr wenn die Störche auf Thompson Dach zurückkehrten und uns mit klappern begrüßten. Bin einmal vom Pferd gefallen, saß dort ohne Sattel und das Pferd stoppte sofort und ich lag auf dem Rücken unter dem Pferd und hatte für ein paar Tage die Sprache verloren. In der Volksschule zwang man mich als Linkshänder, rechtshändig zu schreiben, was zur Folge hatte, dass ich eine längere Zeit stotterte. Auch wurde damals in der Volks- sowie Mittelschule viel geprügelt.
Im Sommer musste ich oft mit meiner Mutter, Bruder und Schwester Kartoffel für die Bauern auflesen, und dann oft sonntags, was ich hasste, Kartoffel stoppeln. Wenn Heuernte war, sind wir Kinder oft zu Fuß nach Horst zur Eider zum Baden gegangen. Erinnere mich, dass auf dem Nachhauseweg wir uns auf die Deichsel der Heuwagen, die einen Anhänger hatten, setzten. Fiese Bauern haben dann mit der umgekehrten Heugabel uns auf den Kopf gestoßen, dabei fiel ich von der Deichsel des fahrenden Wagens runter und glücklicherweise genau zwischen die Räder, andernfalls hatte das tödlich ausgehen können! Es gab in Hennstedt gute und nicht so gute Bauern wie sie Flüchtlinge behandelten.
 Ein anderes Mal gingen meine Schwester und ich von Bauer zu Bauer, muss in 1945-47 gewesen sein, um Waren gegen Essen zu tauschen. Ein Bauer am Kleverweg saß mit seiner Frau abends am vollgeladenen Tisch und sagte uns “wehavesülm nix toeeten” und schickten uns weg. 
Mein Vater ließ 1948 meine Mutter mit drei Kindern sitzen und mein Stiefvater als Schneider hat sich liebevoll um uns gekümmert. Für einen Maßanzug bekam er als Lohn einmal ein Kaninchen, dass als Braten gedacht war, leider war es trächtig!
Wir waren alle sehr traurig als Schuster Rusch an Krebs starb. Von Herbst 1951 – 1955 bei Dammann gewohnt, wurden Nachbarn der Familie von Schmiedemeister Hausmann. Werner Hausmann wurde mein guter Freund und Schwester Rosemarie heiratete ich 1964, Zeremonie in der Hennstedter Kirche. Im April 2014 feierten wir unsere Goldene Hochzeit! Von 1945 – 1950 die Volksschule besucht, von 1951 – 1955 die Mittelschule mit Abschluss mittlerer Reife und alle 17 Schülerinnen und 16 Schüler bestanden die Prüfung und wir hatten sehr gute Lehrer und in der Mittelschule war Herr Wolfgang Pieper unsere Lieblingslehrer.
Habe eine sehr schöne Kindheit in Hennstedt genossen und festgestellt, dass ich dort Wurzeln geschlagen habe und es ist für  mich immer ein eigenartiges Gefühl, wenn ich wieder, wie jetzt im August 2015 in Hennstedt bin, anlässlich unseres Klassentreffen, 60 Jahre nach Schulabschluss, es ist ein Stück “Heimat” für mich geworden, nämlich Heimat ist dort, wo man sich wohl fühlt! In 1980 hatten  wir unser erstes Klassentreffen nach 25 Jahren im Kaisersaal. In 2004 habe ich in Hennstedt an der Goldenen Konfirmation teilgenommen.

Ich bin heilfroh, dass ich ländlich aufgewachsen bin was mich für mein ganzes Leben geprägt hat, da ich die Natur über alles liebe und vermeide Städte. Die Natur ist mein Element. Ich hatte in Hennstedt eine wunderschöne unvergessliche Kindheit - Danke!
 

Mitttelschule im Winter mit dem Nebengebäude, in dem sich nach dem Krieg eine Zeitlang die Volksküche befand und im oberen Teil Flüchtlingswohnungen.

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